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Marietta Peikenbrock mit chris dercon © andreas pein, faz

Boris Charmatz: 10000 Gesten, © Ursula Kaufmann

berlin, 14. september 2017
„tanz öffnet einen mentalen raum“
boris charmatz im gespräch.
eröffnung volksbühne berlin auf tempelhof

Marietta Piekenbrock
Nach den Terrorattacken in Paris, Brüssel, Berlin und zuletzt in Manchester weht ein kalter Wind von den öffentlichen Plätzen. Sie leben und arbeiten in diesen Städten. Als die Anschläge auf Charlie Hebdo passierten, hielten Sie sich in Paris auf. Welche Veränderungen haben Sie erlebt?

Boris Charmatz
Attentate sind für mich schon lange eine konkrete Realität. In den ausgehenden 1970er Jahren wurden zum Beispiel immer wieder in der Pariser Metro Bombenanschläge verübt, die ich von Kindheit an mitbekommen habe. Schon 1978 hat man in Frankreich als Anti-Terror-Maßnahme den Plan Vigipirate auf den Weg gebracht, der die Präsenz bewaffneter Soldaten auf Bahnhöfen und im öffentlichen Raum vorsieht. Wir sprechen also nicht von einem und nicht von drei, sondern von dreißig, vierzig Jahren. Charlie Hebdo hat in Frankreich den Anfang einer Welle von Anschlägen markiert, die ganz Europa, wenn nicht die Welt überhaupt treffen sollte. Und gleichzeitig markiert das Attentat auf Charlie Hebdo, zumindest in Frankreich einen gewissen Bruch. Wohl auch, weil es Künstler und Intellektuelle getroffen hat. Mit einem Mal haben sich viele mitbetroffen gefühlt. In Rennes, wo ich im Musée de la Danse arbeite, sind mehr als 100.000 Menschen, also über die Hälfte der 200.000 Einwohner der Stadt auf den Platz gekommen, auf dem wir später Fous de danse realisiert haben. Eigentlich wollten wir uns dort nur versammeln, um der Opfer zu gedenken, um ein Zeichen zu setzen. Nun waren aber so viele Leute auf den Platz gekommen, dass es zu einer Art Infarkt-Effekt kam: WIR KONNTEN UNS NICHT BEWEGEN, weil wir so zahlreich waren. Dieser physische Zustand war eine sehr prägende mentale Erfahrung.


Was bedeutet das für das Medium Tanz, wenn der Körper wieder in den Mittelpunkt des politischen Feldes rückt?


Die Bühne ist nicht nur ein technischer oder physischer, sondern auch ein Bewusstseinsraum. Tanz öffnet einen mentalen Raum und genau diese Qualität ist für mich der Grund, an Orte zu gehen, die der Öffentlichkeit gewidmet sind. Sie haben etwas Vereinigendes und Direktes in dem Sinn, dass sich dort Gemeinschaft, Demokratie, gesellschaftliche Kräfte, Bürger formulieren und durch ihre bloße Anwesenheit Bedeutung erzeugen. Judith Butler hat das in ihrem neuen Buch sehr treffend beschrieben: Bei Versammlungen gibt es auf der einen Seite das, was vorgebracht, wogegen Einspruch erhoben und was niedergeschrieben wird, aber es gibt auch das, was sich durch die physische Präsenz der sich Versammelnden manifestiert. Ich hatte den Eindruck, dass an diesem Tag etwas Entscheidendes ins Rollen kam. Als käme es in Zukunft noch mehr auf unseren Mut an, auf die öffentlichen Plätze zurückzukehren und uns - ganz wörtlich - wieder in Bewegung zu setzen.


Was unterscheidet eine Geste von einer Bewegung?


Natürlich habe ich mir die Frage gestellt: Soll das Stück 10000 Bewegungen oder 10000 Gesten heißen? Eine Geste hat etwas zu tun mit der Bedeutung, dem Resonanzraum, der Absicht. Eine Bewegung ist dagegen nicht unbedingt mit einer Motivation oder einem Ziel verbunden. Manche Bewegungen sind unwillkürlich, sie geschehen einfach so. Eine Geste hingegen kann ein Zeichen sein, ein Wunsch, eine Bewegung, eine Position, ein Akt, eine Handlung, ein Bild, ein Wort. Es kann irgend etwas sein, a thing, something, wichtig ist dabei nur, dass es sich von dem Etwas neben ihm unterscheidet. Das heißt, dieses Etwas muss einen hinreichend eigenen Charakter haben. Wenn ich genau hinsehe, kann ich erkennen, dass es sich von dem, was ich vorher gesehen habe, unterscheidet. Zum Beispiel, weil meine Motivation eine andere ist, die Form, die physische Beschaffenheit, weil das semantische Feld ein anderes ist. Dies hier ist eine sportliche Geste, das da eine politische, die nächste eine alltägliche. Das Stück heißt 10000 gestes – 10000 Gesten weil die Geste – im Unterschied zur Bewegung - charakteristisch genug ist, um sagen zu können, dass die dritte, die vierte, die fünfhundertste sich unterscheidet von der zweihundertfünfzigsten, der hundertsten oder der ersten.


A Dancer’s Day taucht nun über sechs Stunden tief in die Architektur eines Tanzstücks ein, dessen lang erwartete Uraufführung den Höhepunkt bildet: 10.000 Gesten. Wie findet, wie erfindet man 10000 Gesten?


Die Arbeit folgt einer einfachen gedanklichen Formula: Wir erschaffen 10000 Gesten und keine einzige wird wiederholt. Es ist eine kollektive Fabrik, eine Art Sammlung von Gesten, die aber zugleich etwas sehr Emotionales ist. In den meisten Tanzstücken ist es doch so: Sobald wir eine Geste erschaffen haben, lieben wir sie, und wenn wir sie lieben, wiederholen, kultivieren, variieren, highlighten wir sie. Im Vergleich dazu ist 10000 Gesten eine Art Verschwendung. Etwas vergeht und wir akzeptieren, dass es vergeht. Das ist etwas sehr Emotionales, weil es eng mit der Erfahrung von Verlust zu tun hat. Dieses Gefühl von Vergänglichkeit ist für mich das zentrale Gefühl des Stücks. Alexander Kluge hat mit seinem Film „Die Macht der Gefühle“ zwanzig Episoden zu einer ‚Chronik der Gefühle’ collagiert, wir unternehmen den Versuch eine Chronik der Gesten anzulegen.


Auch in Ihrem Stück danse de nuit – Tanz bei Nacht haben Sie Geschwindigkeit als ästhetisches Argument eingesetzt. Als Zuschauer weiß man nie genau, was man gerade erlebt: Ist es ein Straßenkampf, ein Terroranschlag oder ein Totentanz? In 10000 Gesten laden sich Komplexität der Bewegungsarchitektur und guerillaartige Schnelligkeit gegenseitig auf. Was interessiert Sie an dem Effekt der Geschwindigkeit?


Kennen Sie die Zeichentrickfigur Will E Coyote aus dem Road Runner von Tex Avery? Dieser Koyote, dieser Wolf, rennt und als sich an einem Felsen ein Abgrund auftut, rennt er einfach weiter. Solange er rennt, stürzt er nicht ab. Sobald er nach unten blickt, rauscht er auf der Stelle in die Tiefe. In diesem Stück rennen wir eine Stunde lang, damit wir nicht abstürzen. Es ist ein Spiel mit dem Flüchtigen, damit, dass all die Erfahrungen, Ereignisse, Schocks und Freuden unseres Lebens – vergänglich sind. So wie man im Moment des Todes vor seinem inneren Auge noch einmal sein ganzes Leben im Zeitraffer sieht.


Innerhalb des weiten Raums baut sich etwas Vor-Musikalisches, Vor-Klangliches auf, das sich langsam als Mozarts Requiem zu erkennen gibt, eine monumental pathetische Trauermusik. Sie haben bisher noch nie mit einer so gewaltigen Musik gearbeitet.


Das Requiem ist nicht nur eine Musik für die Verstorbenen, sondern man erlebt, wenn man es hört, auch Mozarts eigenen Tod. Es ist gewissermaßen ein Archetyp für den Prozess der Trauerarbeit. An einem bestimmten Punkt wurde mir klar, dass die Trauerarbeit zu den Kerngefühlen des Stücks gehörte. 10000 Gesten ist also keine Choreografie zu Mozarts Musik, sondern 10000 Gesten ist ein choreografiertes Requiem. Es gibt aber noch ein weiteres Motiv: So wie das Programm für das große Haus am Rosa-Luxemburg-Platz mit Beckett die Frage nach den Grundsteinen der Moderne aufwirft, bewegen wir uns auch auf Tempelhof in einem historisch hochaufgeladenen Areal. Wie in Fous de danse ist uns auch in dieser neuen Arbeit das Zusammenspiel von Geschichte und Gegenwart, zwischen unserer Erbkultur und dem Nachdenken über das Zeitgenössische wichtig. 


Sie überraschen mit einem weiteren, sehr expressiven Zeichensystem, der Sprache der Mode und des Kostüms ...


Was die Kostüme angeht, muss ich sagen, dass sie in meinen frühen Stücken eine sehr prägnante Rolle gespielt haben. Ich habe nackt getanzt, nur mit einem T-Shirt bekleidet oder mit Hose um den Kopf gewickelt. In den letzten Jahren habe ich minimalistischer gearbeitet, die Tänzer traten in gefundenen Stücken, in Alltagskleidung auf. Für Danse de nuit (2016) habe ich zum ersten Mal mit dem Brüsseler Mode- und Kostümdesigner Jean-Paul Lespagnard zusammengearbeitet. Ich bat ihn um seine Sicht auf den öffentlichen Raum. Er hat Silhouetten aus dem städtischen Repertoire aufgegriffen, sie aber abgewandelt und eng auf die Tänzerinnen und Tänzer abgestimmt: eine Art transformierte Dschellaba oder abstrahierte Kluft eines Straßenarbeiters. Für 10000 Gesten hat Lespagnard eine sehr radikale Entscheidung getroffen, die etwas extravagant aus dem bündigen Gefüge des Stücks ausschert: Die schwarzen Overalls erinnern an die französische Eingreifgruppe der nationalen Gendarmerie G.I.G.N, wecken Assoziationen an die Polizei, aber gleichzeitig auch an etwas zwischen Paint Ball, Ninjas und Terroristen. Für andere Kostümbilder spielt Lespagnard mit Transgender-Effekten. Männer läßt er im Slip oder in Tanzunterkleidung auftreten, Frauen in Beinahe-Gala-Gewändern. Roben, die aber wie Andeutungen, Skizzen, Stücke oder Fragmente von Roben sind, wie unfertige, aber singuläre Ideen.


Liegt nicht darin ein starkes politisches und zugleich poetisches Momentum: die Erhabenheit des Eigenen betonen, Gleiches ungleich zu behandeln, das Individuum aus der kollektiven Zugehörigkeit heraustreten zu lassen?


Ja, und es gefällt mir, dass das Stück auf diese Weise Wege nimmt, auf denen es mir nicht mehr ganz gehört. Musik, Kostüme und Licht fügen der Choreografie etwas Dialektisches hinzu, sie lassen uns Situationen von einer anderen Seiten sehen, erfassen Alternativen, konfrontieren uns mit dem Fraktalen unserer Wahrnehmung. Am Ende sitzt der Zuschauer einem Bewegungsbild gegenüber, das sich nicht mehr vollständig erfassen läßt, der Blick schweift unablässig zwischen Detail und Gesamtbild, zwischen dem Einzelnen und der Communitas hin und her, er muss eine Auswahl treffen. In einer klassischen Choreografie organisiert der Choreograf den Blick. In 10000 Gesten löst sich die lineare Erzählung auf in einen Wirbel von Mikroereignissen.


Sie haben eine nomadische Schule gegründet, etwa zehn Stücke choreografiert, ein choreografisches Zentrum in ein Musée de la danse – Museum des Tanzes verwandelt, Ihr Repertoire wird in Europa, den Vereinigten Staaten, im asiatischen Raum gezeigt – man könnte den Eindruck gewinnen, dass Sie mit 10000 Gesten ein sehr persönliches Requiem auf die letzte Dekade ihres museologisches Denkens geschaffen haben?


Kalendarisch betrachtet wird dieses Stück meine letzte große Arbeit für das Musée de la Danse sein. Einerseits ist es mein Vermächtnis für eine Institution und eine Stadt, in der ich zehn Jahre geforscht habe. Insofern könnte man 10000 Gesten wie ein Resumé, wie ein opus summum lesen, in dem Themen wie choreografische Versammlung, öffentlicher Raum, der Körper als lebendiges Archiv kulminieren. Gleichzeitig öffnet es den Blick Richtung Berlin, zur Volksbühne, die ich als Bühne für Kollektive wahrnehme, für Ensembles ganz unterschiedlicher Natur. Auf Französisch würde man vielleicht sagen: scène du peuple. Wer macht dieses Volk aus? Was bedeutet es heute, eine Bühne zu betreten? Wer ist dazu legitimiert? Am Ende sitzt der Zuschauer einem Bewegungsbild gegenüber, das sich nicht mehr vollständig erfassen läßt, der Blick schweift unablässig zwischen Detail und Gesamtbild, zwischen dem Einzelnen und der Communitas hin und her, er muss eine Auswahl treffen. In einer klassischen Choreografie organisiert der Choreograf den Blick. In 10000 Gesten löst sich die lineare Erzählung auf in einen Wirbel von Mikroereignissen.

Übertragen aus dem Französischen von Stefan Barmann

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