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Ursula Kaufmann, Julia Häusermann in Jérôme Bel: Disabled Theater

Julia Häusermann in Disabled Theater. © Ursula Kaufmann

23. august 2012
jérôme bel: „Disabled Theater“
ruhrtriennale 2012


Die Außerordentlichen



Wir merken auf beim Anblick von Andersheit.
Es gibt charakteristische Resonanzen auf die Begegnung mit den außerordentlichen Körpern behinderter Menschen:Verlegenheit, Neugierde, Irritation und Überforderung und Ablehnung.
Allein die Wahrnehmung ihrer Körper und ihrer besonderen Sprache lässt uns die Merkmale ›behindert‹ und ›nicht behindert‹ aufrufen. Reflexhaft beginnt in uns eine Ökonomie des ästhetischen Unter-
schieds zu arbeiten. Und mit Erschrecken stellen wir fest, dass Theater,Tanz und Performance mit ihrer selektiven Darstellung von Körperbildern ihre eigenen Normativität erzeugt haben.

Im Oktober 2010 schickt das Zürcher Theater HORA eine Email an den Choreografen Jérôme Bel, um zu fragen, ob er sich vorstellen könne, mit einer professionellen Theatergruppe zu arbeiten, die aus-
schließlich aus Schauspielerinnen und Schauspielern mit geistiger Behinderung besteht.

In Jérôme Bels Werk kommt vieles zusammen: sein seismografisches Gespür für dieVeränderungen in der Gesellschaft und der Kunstwelt, sein planvoller Abstand zu den gängigen Strategien des Betriebs und seine konzeptuelle Strenge. Zentrale Themen sind die Entfremdung und der Verlust unmittelbarer Erfahrung. Die Wechselbewegungen des Körpers (Shirtologie), des Künstlers (The last performance, Xavier Le Roy) und der Kulturindustrie (The Show must go on) mit den Gesetzen einer modernen Marktgesellschaft durchziehen sein gesamtes künstlerisches Schaffen.

Zuletzt produziert er eine fünfteilige Serie biografischer Tänzer-
solos, in denen er die Darsteller nicht als Virtuosen, sondern Individuen zeigt und ihnen auf diese Weise völlig neuartige theatrale Freiheiten eröffnet.

Das Theater ist für Jérôme Bel ein Mittel,Verhältnisse oder Fähigkeiten sichtbar zu machen, die normalerweise unserem Blick entzogen sind. Sein Theater provoziert Begegnungen zwischen
den Performern und dem Zuschauer. Und zwar mit allen Risiken, die damit verbunden sind. In erster Linie ist da das Risiko der Konfron-
tation: Wir treten als Zuschauer mit etwas in Kontakt, das wir
nicht kennen. Im Verstehen seiner Kunst stoßen wir dabei an die gleichen Grenzen wie beim Verstehen von geistigen Behinderungen.Wir fühlen uns wie Voyeure in Bereichen des eigenen Unbewussten und Unverständlichen.

Kann die zeitgenössische Kunst die Wahrnehmung von Behinderung, ihre Ausgrenzung und unsere Sinnzuschreibungen verändern? Eine kompli-
zierte Frage. Die sinnliche Erfahrbarkeit eines Menschen ist die Voraussetzung für seine soziale, politische und künstlerische Rele- vanz. Ästhetik kann eine Chance sein, wenn wir sie aus den Nischen ins Zentrum der Aufmerksamkeit holen und die Konventionen unserer Festivals durch die Anwesenheit der Außerordentlichen unterwandern lassen.

Sie eröffnen Möglichkeiten für ein Theater wie wir es bisher nicht kannten: einzigartig und unendlich frei.




Die Außerordentlichen. Über Jérôme Bel „Disabled Theater“.
In: Programmheft, Ruhrtriennale 2012