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No education!
Ist es für Kinder und Jugendliche immer wichtig zu wissen,
wer John Cage war oder Pina Bausch?
Warum Tristan traurig ist?
Sprechen wir lieber über Konfrontation mit Kunst.
Ich konfrontiere Dich mit etwas was Du nicht kennst!


Marietta Piekenbrock im Gespräch mit Melanie Suchy




Sie laden dezidiert Künstler ein, nicht Kunstpädagogen, um mit ihnen die Kinder zu erobern?

Ja.  Staunende Ignoranten und Konfrontationsfreudige, die bereit sind mit den Kindern Erfahrungsräume zu betreten, die sie noch nicht kennen. Denn Projekte, die erziehen, fördern oder vermitteln wollen, haben eines gemeinsam: Die Hauptquelle liegt außerhalb des kindlichen Universums. Der Vermittler hat einen Schlüssel zu einem Reich des Verständnisses, den das Kind nicht hat. Tauscht man dieses große Gesellschaftsprojekt von einer ästhetischen Erziehung aus gegen die Idee von Arealen für ästhetische Erfahrungen, öffnen sich sofort andere Perspektiven. Von Erziehungsprojekten werden ja häufig Transferleistungen erwartet: mehr Sozialkompetenz, Ichkompetenz,  Sachkompetenz usw. Die Idee von einem noch leistungsfähigeren, noch glücklicheren Menschen. Viele Projekte sind also mehr für die Gesellschaft als für Kinder und Jugendliche konzipiert.

Welche Kinder sprechen Sie an?

Es sind nicht immer die Bücherbesitzerkinder, die durch Eigensinn und Kreativität auffallen. In dem Moment , wo Neugierde, Offenheit und damit ein ausgeprägtes Explorationsverhalten zu wichtigen Schlüsselkompetenzen werden,  ist ein Migrationshintergrund kein Handicap mehr, sondern eine besondere Qualität.


Was machen Ihre Projekte so anders?

Ich nenne sie  „No-education“-Projekte. Positiv gesagt: Projekte, in denen es um Kunst als Erfahrung geht. Das Kind bleibt Souverän seiner Erfahrung und sieht, hört, erlebt oder erinnert sich an die Dinge, eben nicht gefiltert durch die Weltsicht eines Vermittlers. Ästhetische Erfahrung sollte zweckfrei sein und nicht vollständig integrierbar in die Routinen des Alltags. Sie ist das unverfügbare andere.

Das Essener  Kulturhauptstadt-Programm wies Projekte auf, die Kinder und Jugendliche zwar involvierten, aber ohne Spartenetiketten auskamen.

So wie dort wird sich auch die Dramaturgie für die kommende Ruhrtriennale an eine Ausweitung der Kunstzone machen. Die Grenzen zwischen Musik, Tanz, Malerei, Theater, Installation, Film, Architektur, Alltagskultur, Artefakten verschwimmen auch bei Projekten mit Kindern und Jugendlichen. Wir laden sie ein, mit Künstlern neue Räume für ihre Fantasien zu erschließen. Das kann eine Fabrik sein, ein Museum, ein Konzerthaus, ein Park oder der Gipfel einer Abraumhalde. Die Welt ist eine Bühne  für eine Art  expanded theatre, das zwischen Werk, Situation, Prozess und ästhetischer  Erfahrung changiert.

Und wie könnte das Kinder und Jugendliche interessieren?

Ich beobachte, dass sich ihr Alltag in oft voneinander getrennten Institutionenabspielt: Schule, Sportverein, Club, Elternhaus. Ästhetisches Erleben und Handeln kann den Alltag in diesen Lehr- und Leerräumen miteinander in Verbindung bringen, in dem sich die Sinne vereinen für ein  Verständnis von Ich und Welt, das niemanden ausschließt. Dabei geht auch um die gleiche Würde von Kindern und Erwachsenen.

Es ist nicht wichtig, den Kinder die einzelnen Kunstsparten zu erklären und die Tatsache, dass und warum sie zusammengeführt werden?

Warum sollten wir mit Teenagern über Spartentrennung reden? Für die Kunstbetrachtung oder – kritik könnte das interessant sein, aber für die Wahrnehmung von Kunst finde ich es nicht relevant. Für Kinder ist ein Musiktheaterabend, in dem ein Sänger eine Arie singt, ein Streetdancer rapt, ein Rudel Schäferhunde auftritt, während ein Kameramann ein Life-Video aufzeichnet, das im Hintergrund flimmert, näher an der Realität als ein klassischer Opernabend. Mischformen sind Teil ihres ganz normalen Alltags.

Werden die Anstrengungen, die jeweiligen Künste zu unterrichten und zu erläutern, jetzt überflüssig?

Mir geht es nicht um eine Opposition zu pädagogischen Projekten. Eher frage ich mich: Was fehlt in der Stadt, für die ich ein Programm entwickle. Betriebsanleitungen für Amateure? Oder eher ein Möglichkeitsmaximum an ästhetischer Praxis? Ich verstehe die Projekte eher als Komplementärstücke zu dem, was bereits da ist. Vermittler oder Pädagogen neigen dazu, Kinder zu Containern zu machen für das Wissen und die Erfahrung, die sie selbst gesammelt haben. Sie setzen Kindern gern eine Wahrnehmungs- oder Bildungsmaske auf, durch die eine Aufführung, ein Bild oder ein Film vorverstanden werden soll. Ist es immer wichtig zu wissen, wer John Cage war oder Pina Bausch? Warum Tristan traurig ist? Ich würde lieber von Konfrontation mit Kunst sprechen. Ich konfrontiere Dich mit etwas, was Du nicht kennst! Es geht doch in Ordnung, wenn sie sich dabei ein bisschen langweilen, ein paar Minuten einschlafen, rumzappeln oder eine SMS verschicken. Auch das ist Teil des Kunstwerks.


Sie haben also bestimmte Künstler gefragt, ob sie mit Kindern und Jugendlichen ein Projekt machen wollen im Rahmen der Ruhrtriennale und mit ausgesuchten lokalen Organisationen als Partnern?

Ja, Künstler aus den Bereichen Architektur, living sculpture, Intervention, musikalische Installation und Lichtkunst. Aus dem klassischen Theaterbereich eher nicht. Choreographie spielt sicher eine Rolle. Es zerrt dann nicht unbedingt jedes einzelne Projekt an allen Spartengrenzen, sondern eher die Gesamtkonstellation wird einen Eindruck vermitteln vom Zusammenspiel der Künste.

Sie sagen dann: Macht mal! Oder ist die Sache nicht ganz so lose?

In dem Areal, das wir für ein Projekt schaffen, gibt es eine verbindliche Koordinate: die Qualität der Verabredung. Ich suche immer nach einem Fluidum für starke Partnerschaften zwischen Künstlern, Kindern und Institutionen. Um Grenzen überschreiten zu können, braucht man zweierlei: ein offenes Terrain und eine emotionale Sicherheit.

Münden die Projekte in öffentliche Aufführungen?

Situative Projektarbeit  mit Kindern und Jugendlichen ist ein Sonderfall im Festivalbetrieb. Man muss sehr sensibel und fallweise entscheiden, ob man sie für ein Publikum öffnet. Sobald man das Werk auf den Spielplan setzt und Tickets verkauft, beginnt der Handel mit Erwartungshaltungen. Manchmal ist eine geschützte Halböffentlichkeit vor Freunden und Familie produktiver als ein ausverkauftes Haus und ein Kamerateam. Andererseits genießen Kinder und Jugendliche den Auftritt vor Publikum.

Auch wenn Sie noch nicht sagen dürfen, welche Choreografen Sie für Projekte mit Kindern und Jugendlichen engagieren, können Sie einen Hinweis geben, welche tänzerisch orientierte Kunst Sie fasziniert?

Der Körper spricht eine universell verstandene Sprache. Sein Vokabular wird von allen Schichten verstanden, unabhängig von Herkunft,  Glaubensbekenntnis oder Kultur. In einer immer stärker kosmopolitisch orientierten Sphäre ist er ein Ausdrucksmittel, das vielen zugänglich ist, eben auch einem nichtspezialisierten Publilum. Vielleicht liegt darin ein Grund für das große Interesse  an choreografischen Formen und Life-Art. Künstler wie Boris Charmatz, Tino Shegal oder Laurent Chetouane gehören zu einer Generation, die mit offensiver Bescheidenheit nach neuen Formen künstlerischen Handelns sucht. Dabei bringen sie auf intelligente Art und Weise die Verhältnisse zum Tanzen: zwischen Kunst und Markt, Raum und Zeit, Mann und Frau, Geist und Materie. Sie stellten unter Beweis, dass man auch im Reich der ästhetischen Praxis nachhaltig handeln kann: Mit  minimalistischen Ressourcen entstehen Werke von maximaler Wirkung.



oktober 2011

veröffentlicht in: tanz. zeitschrift für ballett, tanz und performance. berlin, oktober 2011